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Warum erinnern?


Video-Aufzeichnungen der Ringvorlesungen Wintersemester 2023/2024


Forschung zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus und Austrofaschismus

Im Zuge der Vorbereitungen zum 250-jährigen Universitätsjubiläum 2015 entschied sich die Universitätsleitung unter Rektorin Sonja Hammerschmid, die Rolle der Tierärztlichen Hochschule in der Zeit des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus näher zu beleuchten. Im Rahmen eines vierjährigen FWF-Projekts unter der Leitung der Zeithistorikerin Lisa Rettl gelang es, diese bis dahin verschwiegenen Jahre offenzulegen und zeitgeschichtlich zu bearbeiten.

Von Dr. Lisa Rettl, Leiterin des Forschungsprojekts

„Auch die österreichische Tierärzteschaft hat für das Zustandekommen der heutigen staatspolitischen Lage in Österreich sich eingesetzt, dafür gekämpft und Opfer in großer Zahl gebracht“, hielt David Wirth anlässlich des 1938 erfolgten „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich in der Wiener Tierärztlichen Monatsschrift fest: „Die Jahre einer würdelosen, sogenannten Unabhängigkeit sind vorbei!“, schloss der Lehrkanzelvorstand am Institut für Interne Medizin und klinische Seuchenlehre an der Wiener Tierärztlichen Hochschule, zweimaliger Rektor und Schriftführer des NS- Dozentenbundes, seinen Jubelartikel. Aus heutiger Sicht widerlegt seine Aussage die an der Veterinärmedizinschen Universität Wien nach 1945 noch jahrzehntelang gepflegte These von einer angeblich „unpolitischen“ Veterinärmedizin und einer von außen „gleichgeschalteten“ Tierärztlichen Hochschule, die scheinbar unbeteiligt die politischen Entwicklungen zur Kenntnis nahm, jedoch selbst keinerlei Verstrickungen zum Nationalsozialismus zu kennen schien.

In unserem zeitgeschichtlichen Forschungsprojekt zur NS-Geschichte der Veterinärmedizinischen Universität Wien – damals „Tierärztliche Hochschule“ – untersuchten wir mehrere Aspekte dieser bis dato noch unerforschten österreichischen Universitätsgeschichte. Den Ausgangspunkt bildete eine erste und systematisch angelegte Erhebung verschiedener Quellenbestände in mehreren in- und ausländischen Archiven. Den im Projektantrag formulierten universitätsgeschichtlichen Fragestellungen gingen wir schließlich in zwei Schwerpunktpublikationen nach.

Zum einen untersuchten wir Lebenswege jüdischer Studierender, woraus anlässlich des Gedenkjahres 1938-2018 die umfangreiche Monografie Jüdische Studierende und Absolventen der Wiener Tierärztlichen Hochschule 1930-1947. Wege – Spuren – Schicksale (Wallstein Verlag, 360 Seiten) hervorging. In 42 Biogrammen und 4 größeren konnte dabei nicht nur der an der Tierärztliche Hochschule omnipräsente Antisemitismus sichtbar gemacht, sondern auch nachgewiesen werden, dass es weit mehr jüdische Studierende gab, als in den marginalisierenden Nachkriegsdiskursen bisher vermutet wurde.

Umgekehrt folgten wir in der zweiten Publikation Die Wiener Tierärztliche Hochschule und der Nationalsozialismus. Eine Universitätsgeschichte zwischen dynamischer Antizipation und willfähriger Anpassung (Wallstein Verlag 2019) den zentralen Akteuren der Hochschulgeschichte auf dem Weg in den Nationalsozialismus: Hier zeigte sich, dass insbesondere die Studierenden eine gravierende Rolle als politische Akteure spielten. Im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund organisiert, demokratisch legitimiert und seit den Studentenwahlen 1931 an der Tierärztlichen Hochschule sogar mit absoluter Mehrheit ausgestattet, gehörten die nationalsozialistischen Studierenden in signifikanter Übereinstimmung mit ihren Lehrenden, eindeutig zu den politischen Wegbereitern des „Anschlusses“ – eine Rolle, die in der oben genannten Publikation als Ergebnis des Forschungsprojektes ausführlich diskutiert und dargestellt wurde.


Publikationen

Lisa Rettl, geboren 1972 in Klagenfurt/Celovec, arbeitete bis 2020 als freischaffende Historikerin und Ausstellungskuratorin in Wien und Kärnten. Zu ihren Forschungsschwerpunkten – Geschichte des Nationalsozialismus, Erinnerungskultur, Minderheitenpolitik und antifaschistischer Widerstand, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte – erschienen zahlreiche Bücher, Aufsätze und Sammelbände.

Neben Vorträgen und Lehrtätigkeit an der Universität Klagenfurt kuratierte sie ab 2004 mit ihrem Team regelmäßig Ausstellungen zu verschiedenen zeitgeschichtlichen Themen, darunter für die Stadt Villach und das Wien Museum. 2008/09 fungierte sie als Mitglied des internationalen Kuratorenteams der viel beachteten Wanderausstellung „Was damals Recht war“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht. In diesem Zeitraum produzierte sie auch mit der Regisseurin Jenny Gand den biografischen Dokumentarfilm Wilde Minze, der 2010 seinen österreichischen Kinostart erlebte. Im selben Jahr erschien die mit ihrem Kollegen Peter Pirker verfasste biografische Studie zu dem aus Kärnten stammenden KZ-Arzt Sigbert Ramsauer – eine medizingeschichtliche und rechtshistorische Zeitgeschichtsstudie, die in Rezensionen auf internationaler Ebene vielfach gewürdigt wurde. 2011/12 übernahm sie die Leitung und Konzeption des Projekts Neugestaltung des Museums Peršmanhof – ein Museum zur Kärntner Widerstandsgeschichte, das 2012 eröffnet wurde und wo sich die Zahl der Besucher:innen seither verzehnfacht hat. 2014 folgte zum Thema Peršmanhof eine umfangreiche Schwerpunktpublikation (mit Gudrun Blohberger) zu dem hier begangenen Kriegsverbrechen. Ein weiteres Jahr später erschien als Resultat ihres Forschungsprojekts „Deserteure“ eine Biografie zu dem Wehrmachtsdeserteur Richard Wadani (gem. mit Magnus Koch), ferner zahlreiche Artikel zu Frauen im Widerstand.

Von 2014 bis 2018 leitete Lisa Rettl das FWF-Projekt „Die Tierärztliche Hochschule im Nationalsozialismus“ (peer-reviewed), wo sie mit ihren Mitarbeiter:innen wissenschaftsgeschichtliches Neuland erschloss: Zwei Monografien zur Geschichte der Tierärztlichen Hochschule (Wallstein Verlag, 2018 und 2019) gingen aus diesem Projekt hervor.

Für ihre wissenschaftliche Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet: im Jahr 2000 mit dem Würdigungspreis der Universität Klagenfurt, 2002 mit dem Theodor-Körner-Preis und 2008 nochmals mit dem Theodor-Körner-Preis für Kuratorentätigkeit; im Dezember 2012 erhielt sie den Preis für Geistes- und Sozialwissenschaften des Landes Kärnten, im Juni 2015 gemeinsam mit Gudrun Blohberger den Hans-Maršalek Preis. Seit 2018 ist sie Vorsitzende des Fachbeirats für Wissenschaft des Kärntner Kulturgremiums.

Seit 2019 lebt Lisa Rettl in Kärnten, wo sie eine bio-zertifizierte Landwirtschaft mit Fokus Kräuteranbau und -verarbeitung führt.


Kooperationspartner

Die Vetmeduni arbeitet für die Etablierung einer universitätsweiten Erinnerungs- und Gedächtniskultur mit dem Verein zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeitgeschichte zusammen.

Der Zeithistoriker Priv.-Doz. Dr. Alexander Pinwinkler berät und unterstützt die Vetmeduni bei der Entwicklung geeigneter Maßnahmen. Er verfügt über eine umfassende Expertise und Erfahrung zu den Forschungsschwerpunkten Nationalsozialismus und Erinnerungskulturen im 20./21. Jahrhundert sowie zur Universitätsgeschichte im 19./20. Jahrhundert.

Zum Lebenslauf  von Priv.-Doz. Dr. Alexander Pinwinkler

 

Ideen, Anregungen und Feedback

Die Vetmeduni lädt alle Mitarbeiter:innen und Studierenden ein, ihre Ideen und Anregungen für eine gelebte Erinnerungskultur einzubringen. Wir freuen uns über Ihre Kontaktaufnahme und Vorschläge.